Die Waldbesetzungsbewegung in Deutschland

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Taktiken, Strategien und Kultur des Widerstands

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Kohleabbau, Autobahnen, Kiesgruben, Parkhäuser, Kalkgruben und Süßigkeitenfabriken haben etwas gemeinsam, was möglicherweise auf den ersten Blick nicht offensichtlich ist: Kapitalist*innen müssen Wälder roden, um Platz für sie zu schaffen. Aber überall in Deutschland, setzen sich Menschen dafür ein sie zu stoppen. Im zurückliegenden Jahrzehnt haben sich Waldbesetzungen und Aktionen zur Verteidigung von Wäldern derart ausgebreitet, dass wir nun über die Bewegung als ganzes nachdenken können.

Die roten Texte in diesem Text stammen aus dem Buch Klimakämpfe—Wir sind die fucking Zukunft.

Gemeinsam gegen die Megamaschine: Auf diesem Foto aus dem Jahr 2014, ein Jahr bevor die Massenproteste von Ende Gelände begannen, sehen wir eine kleine Gruppe Menschen auf ihrem Weg, einen der gewaltigen Bagger einer Kohlegrube zu blockieren. Gerade dadurch, dass sie scheinbar unerreichbare Ziele ins Auge fassen, können kleine Gruppen mit Taktiken experimentieren, die später die Basis für Massenaktionen und Erfolge legen.

Überall in Deutschland

Seit dem 26. Februar 2021 besetzen Menschen den Altdorfer Wald nahe Ravensburg. Eine Kiesgrube bedroht die Existenz des Waldes und ein paar Aktivist*innen, die zuvor Klimacamps und Baumhäuser in der Ravensburger Innenstadt errichtet hatten entschlossen sich im Wald zu leben, um ihn zu beschützen. Momentan ist diese Besetzung nicht räumungsbedroht.

Am Tag der Besetzung bei Ravensburg begann am anderen Ende Deutschlands die Räumung eines besetzten innerstädtischen Wäldchens. In Flensburg hatten im Oktober 2020 Menschen begonnen, Baumhäuser und Plattformen zu errichten, um Bäume zu retten, die gefällt werden sollten, um einem Hotel und einem Parkhaus Platz zu machen.

Es blieben nur noch Tage bis zum Ende der legalen Rodungssaison und die Investoren schickten kaltherzige Söldner mit Kettensägen, um die Bäume, ungeachtet der Risiken für die Aktivist*innen, kaputt zu sägen. Die Stadtpolitik belohnte das Verbrechen der Investoren mit dem Anfordern weiterer Polizeikräfte, um die Besetzung zu eben jenem Moment anzugreifen und zu räumen, als Flensburg einer der COVID-19 Mutations-Hotspots in Deutschland war.

Apropos Pandemie: Die Grünen in Hessen haben sogar im bürgerlichen Lager an Unterstützung verloren, weil sie sich nicht nur für die neue A49 und damit im Resultat für großflächige Rodungen im Dannenröder Forst, Herrenwald und Maulbacher Wald aussprachen, sondern zusätzlich auch noch im November 2020 eine mehrere Wochen andauernde Räumung anzettelten, als eben diese Region Corona-Hotspot war.

Die Besetzungen in diesen Wäldern hatten 2019 begonnen und manche Protestierende sind noch immer in der Gegend, denn die Autobahn ist noch nicht gebaut, obwohl die Bäume auf der zukünftigen Trasse gefällt wurden. Eine der spektakulärsten Aktionen war eine 300 Meter lange Seil-Traverse, die den Danni und den Herri verband.

Vermutlich überraschend - auch für viele Beteiligte - war der Erfolg einer weiteren Besetzung. Am 21. Februar besetzten Demonstrierende bei Halle (Westfalen) den Steinhausener Wald, wo die Süßigkeitenfabrik Storck erweitern wollte. Kaum eine Woche später, die Besetzer*innen hatten bereits die Räumung befürchtet, entschied sich die Firma um. Jedenfalls für den Moment ist der Wald sicher.

In Wuppertal, genauer Osterholz, sind fünf Hektar durch eine Kalkgrube gefährdet. Die Kalkwerke Oetelshofen wollen ihren Abraum dort lagern, wo heute Bäume stehen. Seit August 2019 ist das Gelände besetzt. Wie auch überall sonst bemühen sich die Kapitalist*innen, die von zerstörten Wäldern profitieren, ihre Propaganda als ›objektive Diskussion‹ zu vermarkten, beschweren sich über angebliche ›Diffamierung‹ und betonen, dass ihr Betrieb systemrelevant sei. In der Tat ist jedes kapitalistische Geschäft systemrelevant – weil aber das System selbst die Wurzel des Problems ist, ist dieses Argument nicht überzeugend für jene, die das System verändern wollen. So oder so liegt ihnen momentan keine Genehmigung vor, um den Wald zu fällen.

In Wilhelmsburg in Hamburg in einem Wald namens WiWa (Wilder Wald) haben Menschen Baumhäuser errichtet, denn die Stadt hat das Areal zum potentiellen Entwicklungsgebiet erklärt. Die Aktivist*innen haben Plattformen auf Bäumen entwickelt, aber vermutlich ist das nicht die Art von Entwicklung, die Politiker*innen begrüßen.

Außerdem gibt es Waldbesetzungen in zwei Dörfern im Rheinland, die vom Kohleabbau bedroht sind. Die Besetzung in Keyenberg besteht seit September 2020, während jene in Lützerath erst am 16. Januar 2021 entstand. Der Widerstand dort ist eng vernetzt mit den Menschen, die versuchen die Orte zu retten, indem sie Häuser besetzen, die RWE abreißen will, oder Baugerät erklettern.

Und schließlich gibt es da noch den (noch immer) besetzten Hambacher Forst, die berühmteste Waldbesetzung von allen. Erstmals 2012 besetzt wurde er mehrfach geräumt und wieder besetzt. Im Januar 2020 entschieden Politiker*innen, dass der Hambi nicht komplett zerstört werden soll – nachdem der allergrößte Teil schon zerstört wurde – aber die Besetzung bleibt bestehen. Kürzlich veröffentlichten einige Menschen aus dem Hambi Ausgabe 5 des zweisprachigen Zines Shitbarricade.

Hambacher Wald

Und für international Reiselustige: Es gibt auch Besetzungen in Polen, der Schweiz und Frankreich sowie Kämpfe in Schweden und Belgien, die mit den Kämpfen in Deutschland vernetzt sind. Sie näher zu betrachten würde jedoch den Rahmen dieses Artikels sprengen.


Samen verbreiten, Wurzeln schlagen

Waldbesetzungen scheinen sich überall in Deutschland auszubreiten. Im Hambacher Wald, der zerstört wird um Braunkohlekonzernen Platz zu machen, hatten zum Höhepunkt der Besetzung vor der Räumung 2018 Waldbesetzer*innen mehr als 70 Baumhäuser errichtet. Familien kamen in den Wald um gemeinsam Barrikaden zu errichten.

Im Dannenröder Wald, wo Bauunternehmer für eine geplante Autobahn eine Schneise geschlagen haben, wurden zwischen 2019 und 2020 mehr als 500 Barrikaden, Baumhäuser und andere Konstruktionen errichtet. Die Räumung im Danni dauerte mehr als zwei Monate an, es waren bis zu 2000 Cops beteiligt und mehr als 2000 Verfahren wurden gegen Aktivist*innen eingeleitet.

Was sind die Gründe dafür? Vor fünfzehn Jahren waren es nur wenige Leute, die auf Bäume kletterten um Wälder zu retten, um Bewusstsein zu schaffen für Flughafenerweiterungen oder Kohleabbau und um sich der Destruktivität des Kapitalismus entgegen zu stellen

Heute engagieren sich Hunderte in den Kämpfen am Hambacher Wald, am Dannenröder Wald und sogar in ein paar kleinen städtischen Wäldchen.

Hambacher Wald


2003 lernte ich Lakoma kennen. Ein kleines sorbisches Dorf in der Nähe von Cottbus. Bereits zu DDR Zeiten waren die Bewohner*innen umgesiedelt worden, doch durch die Wende verzögerte sich der Abriss der Häuser und Künstler*innen hatten beschlossen, den Ort wiederzubeleben. Eine Kulturscheune war entstanden und ein Wagenplatz; einige der Häuser wurden besetzt. Ich übernachtete im Bauwagen, beteiligte mich an Baumbesetzungen, machte Spaziergänge durch die verbliebenen Reste des Dorfes. Vorbei an Holzskulpturen des Widerstands, abgerissenen Häusern und halb abgerissenen Badezimmern. Ich begann zu begreifen, dass die rücksichtslose Vertreibung indigener Minderheiten für Rohstoffgewinnung nicht nur weit weg stattfindet, sondern genau hier.

Jahre später lerne ich, dass es in der DDR sogar ein Kinderlied gab zur Kohle, das Ofenlied: »Guten Morgen lieber Ofen, wir frieren so sehr. Darum brenne lieber Ofen, dann frieren wir nicht mehr. Ich hab keine Kohle, bin selber ganz kalt. Frag den Bagger nach Kohle, im Tal hinterm Wald. Guten Morgen lieber Bagger, im Tal hinterm Wald. Gib uns Kohle, denn wir frieren und der Ofen ist kalt. Ich hab keine Kohle, meine Eimer sind leer, frag die Erde nach Kohle im Schacht schwarz und schwer. Guten Morgen liebe Erde, im Schacht schwarz und schwer. Gib uns Kohle, denn wir frieren und die Eimer sind leer. Greif nur zu sagt die Erde, den Bagger holt her. Im Ofen schürt Feuer, dann friert ihr nicht mehr.«

Aber auch in Westdeutschland war und ist die Kohle kulturell tief verwurzelt. Borussia Dortmund Fans im Stadion ebenso wie Knabenchöre singen noch heute das Steigerlied und viele Familien berichten voller Stolz von den Angehörigen, die im Stein- oder Braunkohleabbau hart arbeiten, gearbeitet haben oder gar umgekommen sind. Ein Ausstieg aus der Kohle ist dementsprechend nicht nur eine technische Frage und eine klimapolitische Notwendigkeit, sondern erfordert auch ein kulturelles Umdenken.

Die Besetzung im ›Herri‹ gegen die A49

Warum Wälder verteidigen? Warum jetzt?

Warum beteiligen sich derart viele Menschen an Kämpfen zur Verteidigung der Wälder in Deutschland?

Es sind nicht wissenschaftliche Erkenntnisse über den Klimawandel

Der Club of Rome veröffentlichte »Limits to Growth« (»Die Grenzen des Wachstums«) 1972. Seitdem gibt es permanent neue dringliche Aufrufe von Wissenschaftler*innen für Veränderungen.

Es ist nicht das Versagen der Politik

Einige derer, die heute aktiv sind, berichten, dass sie sich den Kämpfen angeschlossen haben, weil die Politik versagt. Zweifellos ist die Tatsache, dass politische Bemühungen, Reformen zu erreichen, gescheitert sind, ein guter Grund, nach effizienteren und erfüllenderen Strategien zu suchen. Aber Politiker*innen sind immer an der Umsetzung ihrer Versprechen gescheitert, das ist nichts Neues. Ist das Versagen der Politik heute offensichtlicher als früher?

Es ist wohl vielmehr der Diskurs, der sich verändert hat und das Scheitern der Politik klar machte.

Wer hat den Diskurs verändert?

Diese Diskursveränderung ist fraglos eine positive – im Gegensatz zu vielen anderen Diskursen wie sich verbreitendem rechten Gedankengut und antisemitischen Tendenzen. Es geht dabei nicht ausschließlich um ein gewachsenes Bewusstseins für Klima- und Umweltfragen, sondern auch um die Verbreitung emanzipatorischer Ideen, wie der Idee, dass es effektiv und legitim ist, direkte Aktionen anzuwenden, um Gesellschaft zu verändern.

Wer hat den Diskurs verändert? Waren es Aktivist*innen, die in Fernseh-Talkshows auftraten? Waren es die Brandanschläge auf die Kabel, die die Kohleminen versorgen? »Fridays for Future«? Die Massenproteste von Ende Gelände in den Kohlegruben? Sabotage an den Schienen zum Kohlekraftwerk? Die NGOs? Lokale Initiativen? Die frühen Aktivist*innen, die an direkte Aktion glaubten trotz scheinbar unüberwindlicher Hindernisse? All dies zusammen?

Lasst uns das genauer betrachten.

Eine lokale Bürgerinitiative (die BI Bahnhofsviertel) unterstützt die Besetzung in Flensburg.

Bürger*innen-Initiativen

Lokale Initiativen direkt betroffener Menschen leisten einen enorm wichtigen Beitrag zum Erfolg großer Bewegungen. Lokale Expertise und kontinuierliche Arbeit über Jahre und Jahrzehnte können weder von aktivistischen Gruppen noch von Verbänden, die auf bundesweite Arbeit ausgerichtet sind, geleistet werden. Und auch für die Verwurzelung des Widerstands in den Regionen sind die BIs (Bürger*innnen-Initiativen) unverzichtbar. Sie sind in Phasen von wenig Interesse oft über Jahre die Einzigen, die zu Themen arbeiten. Auf ihr Wissen greifen große Verbände im Zweifel gerne zurück (oft leider ohne die Arbeit angemessen wertzuschätzen) und dennoch werden sie oft vergessen. Denn in Phasen, in denen viel passiert, stehen sie nicht zwingend im Rampenlicht.

So organisieren die Buirer für Buir beispielsweise regelmäßig Rote-Linie-Aktionen und bilden mit roten Transparenten, Fahnen und T-Shirts symbolische rote Linien zwischen dem Tagebau Hambach und dem bedrohten Forst. Sie zeigen Filme und machen Informationsveranstaltungen, beteiligen sich an Sternmärschen und an Bündnissen gegen den Abriss weiterer Dörfer für die Kohle. Es mag unscheinbar wirken, aber es bleibt unendlich wertvoll, wenn gerade in schnelllebigen Zeiten Menschen kontinuierlich an einem Thema dranbleiben.

Fridays for Future

Im Dezember 2018, dreieinhalb Monate nachdem Greta Thunberg in Stockholm begonnen hatte zu streiken, gab es in Deutschland die erste Aktion mit Bezug auf ihre Aktion. Nur zwei Monate später organisierten Regionalgruppen in mehr als 150 Städten in ganz Deutschland Freitags Schulstreiks. Am 15. März 2019 nahmen rund 300 000 Menschen an Aktionen in mehr als 200 Städten bundesweit teil; diese Zahl wuchs bis zum Sommer sogar noch weiter an, es kam zu Aktionen in mehr als 500 Städten.

Ich finde es bemerkenswert, dass sich derart viele Schüler*innen verbindlich und mit einer beeindruckenden Ausdauer organisieren. Ihr großer Verdienst ist es, die Debatte um Klimapolitik ganz deutlich auf die gesellschaftliche Tagesordnung gesetzt zu haben. Angela Merkel reagiert mit einer durchschaubar verlogenen Umarmungsstrategie. »Eine sehr gute Initiative«, sei FFF und sie »unterstütze sehr, dass Schülerinnen und Schüler für den Klimaschutz auf die Straße gehen und dafür kämpfen.« Und die Proteste hätten die Bundesregierung »sicherlich zur Beschleunigung getrieben.« Bleibt nur zu hoffen, dass ihr diese Propaganda niemand glaubt.

Fridays for Future.

Die Fridays For Future-Protestse sind heterogen. Während sie sich an manchen Orten offen solidarisch mit der Besetzung im Hambacher Forst zeigen und sich kritisch gegen Appellpolitik positionieren, lassen sie an anderen Orten die jeweiligen Oberbürgermeister*innen auf ihren Demos reden oder setzen sich mit der Politik an runde Tische.

Jakob Blasel, einer der Sprecher des deutschen Ablegers von Fridays For Future, berichtet darüber, wie er es ins Büro von Peter Altmaier geschafft hat. Ihm ist bewusst, dass Altmeier die Einladung an die Demo doch in den Hof des Ministeriums zu kommen ausgesprochen hat, um das Ganze als PR-Veranstaltung zu missbrauchen. Statt also Altmaier die Möglichkeit zu geben zu den Streikenden zu sprechen, war deren Ansage, dass die Schüler*innen Altmaier erklären wollten, wofür sie kämpfen. Das taten sie in einem ca. halbstündigen Gespräch, woraufhin das Sekretariat des Ministers die Erwartungshaltung äußerte, nun dürfe Altmaier bestimmt doch auf der Demo reden. Die Streikenden verneinten. Altmaier tauchte dennoch auf der Demo auf und wurde ausgebuht, übertönt und weggeschickt, er solle ins Ministerium gehen und dort seine Arbeit machen. Und dennoch landete auch das Bild aus seinem Büro in vielen Medien. Zwar betont Blasel, inhaltlich sei das Vorbringen offenkundig bei Altmaier »nicht angekommen«, nichtsdestotrotz merkt man ihm einen gewissen Stolz an, mit dem Minister geredet zu haben.

Jakob Blasel von Fridays for Future bei Bundesminister Peter Altmaier.

Es ist ambivalent: Zwar werden Politiker*innen von FFF oft als Teil des Problems benannt, dennoch richten sich viele Forderungen konkret an sie. Zwar wird ihnen Versagen vorgeworfen, gleichzeitig jedoch mal explizit, mal implizit unterstellt, dieses Versagen sei auf einen Mangel an Informationen zurückzuführen. Letzteres halte ich für falsches, naives Wunschdenken. Wäre zerstörerisches Verhalten stets nur ein Mangel an Information, dann hätten wir es mit beeindruckend vielen bemitleidenswert uninformierten Menschen in hohen politischen Ämtern zu tun. Die Aufklärung allein würde in dem Fall genügen, die Probleme zu beheben. Folgerichtig, wenn auch aus meiner Sicht falsch, hat FFF die Entscheidung getroffen, eigene Forderungen zu stellen. Begründet wurde das mit der Behauptung, die Politik brauche einen klaren Handlungsstrang.

Aber die Entscheider*innen sind nicht uninformiert. Sie entscheiden sich vielmehr, und das mag tatsächlich für viele unfassbar und unvorstellbar sein, bewusst und wissentlich für kurzfristige, egoistische Profite. Und das in voller Kenntnis der dramatischen Folgen. Schlicht, weil es sich rechnet, weil es der Karriere zuträglich ist, kurz: aus reinem Egoismus.

Neben der Vereinnahmung durch externe Akteur*innen ist eine weitere große Gefahr bei den FFF die Befriedung von innen. Während sich zu Beginn auch noch radikalere Forderungen fanden, lese ich Mitte 2019 auf fridaysforfuture.de, ein deutscher Kohleausstieg solle bis 2030 umgesetzt sein. Es ist traurig, wie schnell hier aufgrund vermeintlicher realpolitischer Notwendigkeiten Forderungen aufgeweicht wurden. Wenig überraschend, wenn eine der Sprecherinnen parallel bei den Grünen aktiv ist. Erfreulicherweise ist das allerdings auch intern nicht unumstritten, ihr wird Personenkult und Karrierepolitik vorgeworfen.

Massenproteste: Ende Gelände

Was zu Beginn eher ein verbindender Slogan und ein Bündnis verschiedener Gruppen war, wurde schnell zum Markennamen für einen Zusammenschluss von Initiativen und Personen, der eine ganz bestimmte Art von Massenaktionen auf die Beine zu stellen in der Lage ist: Ende Gelände. Das Bild ist zweifelsohne beeindruckend: Tausende von Menschen betreten, mit Staubmasken und weißen Maleranzügen bekleidet, die riesigen Tagebaugruben und blockieren die Bagger. Ihre Anwesenheit legt den Betrieb lahm, macht es unmöglich weiter abzubaggern. Gleichzeitig blockieren andernorts ebenso viele Menschen die Schienen, auf denen an sonstigen Tagen die Kohle aus der Grube ins Kraftwerk transportiert wird. Weil das Kraftwerk nicht genügend Vorräte hat, muss es seine Leistung drosseln.

Ende Gelände.

Seit 2015 organisiert Ende Gelände Massenaktionen, meist im rheinischen Braunkohlerevier. Bereits im ersten Jahr beteiligten sich rund tausend Aktivist*innen und im Sommer 2019 waren es nach eigenen Angaben sogar sechstausend Menschen, die sich an den Blockaden und Blockadeversuchen beteiligten.

Ende Gelände ist eine Mitmachaktion. Ein Konzept, was es explizit auch Menschen mit wenig oder keiner Aktionserfahrung ermöglicht, mitzumachen. Schon Tage vorher organisieren sich Menschen in Bezugsgruppen, um in der Aktion aufeinander aufpassen zu können und füreinander da zu sein. Sie simulieren das Durchbrechen von Polizeiketten und üben das Ausspülen von Pfefferspray aus den Augen. Sie packen Strohsäcke als Sitzunterlagen für harte Schienen. Wenn sie losziehen entsteht eine unvergleichliche Atmosphäre, eine Dynamik voller Erwartungen, Entschlossenheit, Angst oder zumindest Respekt und lauten Sprachchören. Viele Menschen und Gruppen aus anderen Ländern sind dabei, es werden Erfahrungen ausgetauscht und Debatten geführt.

In Vorbereitung auf die Aktionen entwickelt Ende Gelände einen ›Aktionskonsens‹, der den beabsichtigten Rahmen der Aktionen beschreibt. Typischwerweise beinhaltet dieser ein Bekenntnis zu offen angekündigten Massenaktionen und eine Beschreibung des vorschriftsmäßigen Verhaltens.

2019 enthielt der Aktionskonsens folgendes:

»Wir werden uns ruhig und besonnen verhalten; wir gefährden keine Menschen. Wir werden mit unseren Körpern blockieren und besetzen; es ist nicht das Ziel, Infrastruktur zu zerstören oder zu beschädigen. Wir werden uns nicht von baulichen Hindernissen aufhalten lassen. Absperrungen von Polizei oder Werkschutz werden wir durch- oder umfließen. Unsere Aktion wird ein Bild der Vielfalt, Kreativität und Offenheit vermitteln. Unsere Aktion richtet sich nicht gegen die Arbeiter*innen von RWE, die von RWE beauftragten Firmen oder die Polizei. Die Sicherheit der teilnehmenden Aktivist*innen, der Arbeiter*innen und aller Beteiligten hat für uns oberste Priorität. Wir bereiten uns gut auf einen sicheren Weg zu unseren Aktionsorten vor.«

Erfreulich deutlich wird von Ende Gelände das bestehende Wirtschaftssystem kritisiert, so heißt es online, »Ohne eine Abkehr vom fossilen Kapitalismus ist weder eine ernstzunehmende Bekämpfung der Klimakrise noch globale soziale Gerechtigkeit möglich. Ein tiefgreifender, sozial-ökologischer Wandel ist nötig um ein gutes Leben für alle zu erreichen.«

Ende Gelände arbeitet an der Verschiebung des gesamtgesellschaftlichen Diskurses, also dessen, was sag- und denkbar ist. Genau darin liegt der große Verdienst.

Und dennoch bin ich nach den Aktionswochenenden nicht nur überwältigt von den vielen Menschen, die bereit sind, persönliche Risiken auf sich zu nehmen, sondern stelle mir Fragen. Ich frage mich, ob das fließbandmäßige Aktionsangebot dazu führt, dass Menschen hier einfach blind ein Angebot konsumieren, ohne sich als gestaltenden Teil der Aktion zu begreifen. Ich frage mich, inwieweit der Aktionsrahmen tatsächlich als ein ausgehandelter Konsens der Beteiligten verstanden oder als unumstößliches Gesetz wahrgenommen wird.

Ende Gelände.

Bewegung ist meiner Überzeugung nach nicht dann besonders schlagkräftig, wenn sie immer wieder fast folkloristisch das Gleiche tut, sondern unkalkulierbar und unkontrollierbar ist. Diesen Grundgedanken vermisse ich bei Ende Gelände. Zwar kann ich nachvollziehen, dass neuen Aktiven mit dem Rahmenkonzept eine gewisse Sicherheit vermittelt und angeboten werden kann und soll, aber ritualisierte und berechenbare Happenings werden sich nach innen wie nach außen politisch irgendwann totlaufen und werden bedeutungslos.

In einem Auswertungspapier schreibt das Hamburger Anti-Atom-Büro über Ende Gelände:

»Es ist für eine Bewegung überlebens-notwendig, sich selbst und die eigenen Ziele ernst zu nehmen. Das Ziel, durch eine direkte Intervention den Betrieb von Kohlekraftwerken anzugehen, erschöpft sich eben nicht in der medialen Vermittlung von Bildern dieses Vorhabens, sondern muss auch den praktischen Versuch umfassen, es umzusetzen.«

»Wir meinen es ernst mit der Stilllegung der Kohleverstromung«, wurde in den Momenten ganz konkret, als nicht einfach an einem vorbestimmten Ort ›Ende im Gelände‹ war, sondern die Menschen in der Aktion diese in die Hand nahmen, sich von den Strukturen der Kampagne lösten und eigenständig ›aus dem Ruder‹ gelaufen sind. An dieser Stelle wird die Kraft der Bewegung unmittelbar sichtbar. Indem sich die Leute in ihrem Ziel, das Kraftwerk stillzulegen, selber ernst nahmen, waren sie in der Lage, genau dorthin zu gehen, wo es den Betreibern wirklich weh tat und wofür es von der Kampagne keine Pläne geben konnte. Das durch diese Entschlossenheit ausgelöste Wutgeheul von Polizei, Betreibern und Politik zeigt deutlich, dass wir nach zwei Tagen der Umarmung endlich den Druckpunkt gefunden hatten, an dem es dem politischen Gegenüber weh tat.

»Segen und Fluch der Bewegungs-kampagnen ist es, wachsen zu können, aber auch zu müssen. Jedes Kampagnenereignis muss das vorhergehende übertreffen, um weiterhin die Hoffnung vermitteln zu können, im Moment der wichtigste Interventionsort der Bewegung zu sein. Das ist sehr bedauerlich, aber anscheinend nicht ad hoc zu ändern. Auf lange Sicht hilft da nur, kontinuierlich soziale Orte des Widerstandes aufzubauen, und sich selbst ein Kampagnenhopping zu versagen. Nur so kann es gelingen nach dem Abbruch eines Bewegungszyklus den Widerstand zu reorganisieren und nachhaltig wirken zu lassen, wie es im Wendland gelungen ist.« 1

»Was, wenn ein wesentlicher Teil der Bevölkerung die Stürmung eines Braunkohlekraftwerks immer noch skandalöser findet als dessen schiere Existenz?« fragt die Zeitschrift Arranca in Ausgabe #53. Sie fassen zusammen, dass Ende-Gelände-Proteste »für die einen ein Ausdruck von Massenmilitanz und für die anderen eine friedliche ungehorsame Massenaktion« seien. »Die Aktionsform passt zu vielfältigen subjektiven Bewusstseinszuständen – und erweitert diese, ohne die Frage der Militanz zur Gretchenfrage zu erklären.«.

Foto einer Aktion, bei der deutschlandweit Autobahnen blockiert wurden

Sabotage

Militante Aktivist*innen kommunizieren ihre Analysen und Techniken oft durch Bekenner*innenschreiben. Nicht zuletzt weil sie wegen des hohen Repressiosnrisikos versuchen anonym zu bleiben, streben sie an, sich in den Medien durch die Aktionen selbst sowie geschriebene Statements auszudrücken. Zahlreiche, teils sehr emotionale Debatten, die militanten Anschlägen folgen, zeigen, dass die Aktionen neben einen unleugbaren Eingriff in den Normalbetrieb der Braunkohlegruben auch eins können: Kontroverse beflügeln.

Am 13. April 2016 schreibt die Aachener Zeitung über einen Sabotage-Akt auf einen Strommasten, der die Leitungen trägt, die den Tagebau Inden versorgen. Ein Winkelschleifer sei benutzt worden, um den Mast direkt oberhalb des Fundaments anzusägen.

Auszüge aus dem Bekenner*innenschreiben, erschienen auf linksunten.indymedia:

»Ich habe heute nacht, vom 11.04.16 auf den 12.04.16, versucht dem tagebau Inden die lichter auszuknipsen. Um meiner wut ueber den fortschtreitenden braunkohleabbau und die repression gegen die menschen die sich dagegen einsetzen ausdruck zu verleihen habe ich einen strommast zwischen fronhoven und dem Kraftwerk weisweiler angefangen zu faellen. Dieser mast traegt die leitungen die den tagebau mit strom versorgen und so ein arbeiten erst moeglich machen. Auch wenn der mast zur zeit noch steht ist er doch so weit beschaedigt, dass RWE ihn jetzt voraussichtlich selber umlegen muss. Ich war mir der risiken fuer mich bewusst, halte es aber fuer noetig zu drastischen mitteln zu greifen im kampf fuer eine bessere welt. (…)
Um das zu erreichen sollten wir aufhoeren in kategorien von gutem und schlechtem widerstand zu denken und solidarisch miteinander sein. Der castorwiderstand konnte nur so erfolgreich sein, weil militante und friedliche aktionen sich ergaenzt haben. Wechsle den Stromanbieter! Besetzt Haeuser, Bueros und Bagger! Blockiert Zufahrten und Arbeitsablaeufe! Faellt Strommasten anstatt Baeume! Was ich mich getraut habe zu versuchen, kannst du schon lange!«

Ein ausgebranntes RWE Fahrzeug im Rheinland.

Nur wenige Tage später, am 25.April 2016, traf ein weiterer Sabotage-Akt den Tagebau Hambach. Die Aachener Zeitung schreibt, es handle sich um einen in dieser Form bisher einmaligen Sabotage-Akt. Ein Feuer unter einer Kabelbrücke habe zu einem Kurzschluss geführt und so zeitweise den kompletten Tagebau, inklusive des Hauptkohlebaggers, lahmgelegt.

Wieder gibt es ein Bekenner*innenschreiben:

»Wir melden uns als diejenigen zu Wort, die den Ausfall der Braunkohlegrube Hambach am vergangenen Sonntagmorgen, dem 24. April 2016 herbeigeführt haben. Als Ziel unseres Angriffs wählten wir die frei liegenden Erdleitungen zwischen Kohlebunker und Bändersammelpunkt. An diesen Kabeln sind sämtliche Bagger, Absetzer und Förderbänder angeschlossen. Die Kabel verlaufen vom Umspannwerk am westlichen Grubenrand bei Oberzier, in dem von 280kV auf 30kV transformiert wird, zum Bändersammelpunkt über Stahlgerüste in einer Höhe von etwa 20 - 200cm. Einschließlich der Isolierung waren sie etwa 10cm dick. Um eine gesicherte Wirkung auf möglichst viele Kabel zu erzielen haben wir eine enorme Menge Benzin unter den Kabeln platziert und entzündet. In der Nähe der Brandstelle befanden sich weder Gebäude noch Geräte, auf die das Feuer hätte überspringen können. Dort hielten sich auch keine Menschen auf. Die verschiedenen Blackouts waren begleitet von hellen, durch die gesamte Grube sichtbare Blitzen. Diese rührten von den Entladungen der Stromkabel, sobald deren Isolierung durch geschmolzen war. Unsere Aktion richtet sich nicht nur gegen RWE, sondern auch gegen die herrschenden Verhältnisse. In einer Welt, in der Kapitalinteressen im Vordergrund stehen und der Machtapparat seine kurzsichtigen Interessen rücksichtslos gegen jede Vernunft sowie gegen Mensch und Natur durchsetzt, ist ein radikaler Widerstand von Nöten. Wir wollen diesem System ein klares ›NEIN‹ entgegenstellen, als ersten Schritt um diese Machtverhältnisse irgendwann zu kippen.(…)

Der Versuch zwischen RWE und dem Braunkohlewiderstand zu schlichten legt die Machtverhältnisse offen. Schlichten heißt den Widerstand aufzufordern weniger radikal, weniger ›gemein‹ zu RWE zu sein oder auch anders gesagt: ›der Widerstand darf nicht stören‹ und akzeptiert dabei die Existenz von RWE und sein Zerstörungswerk als gegeben. Das heißt die autoritär durch Herrschaft legitimierte Gewalt, die im Abbau und der Verstromung der Kohle liegt, wird akzeptiert, die rebellische Gewalt, die sich dagegen wehrt, erscheint illegitim. Das Ergebnis kann nur eine wie auch immer geartete Bestandsgarantie für RWE sein, die nun auch noch den Segen eines Teils des Widerstandes hat. Des Teils, der sich in das Schlichtungsverfahren hat einbeziehen lassen. Der Widerstand wird in den ausgeschalteten und eingebundenen und den übriggebliebenen und isolierten illegitimen Teil gespalten. Wenn Leute behaupten, eine solche Aktion würde dem Widerstand schaden, so spricht daraus die Rücksichtnahme auf die Macht der Herrschenden, den Widerstand in gut und böse zu spalten. Böse ist das, was weh tut, wirklich stört und effektiv ist.

Der Kölner Stadt-Anzeiger schreibt: ›Brandstiftung, Gewalt gegen Menschen, Baggerbesetzungen und sinnlose Zerstörungswut gegen technische Einrichtungen mit dem Ziel, Tagebaue und Kraftwerke lahmzulegen – die Heftigkeit der kriminellen Handlungen nimmt zu.‹ Dabei sind Besetzungen, Brandstiftungen und Blockaden nicht sinnlos, sondern halten die Zerstörungswut von RWE sehr präzise auf. Was dem Widerstand schadet, ist der Gehorsam vor der Macht und ihren Medien, die versuchen uns zu erzählen was gut und böse ist. Wir sollten auf unser Gewissen und unsere Vernunft hören, nicht auf die Medien. Wir haben mit unserer Aktion den Beweis geliefert, das kluge und sorgfältige Militanz, bei moderater und vertretbarer Eigengefährdung, den RWE-Normalbetrieb beenden kann. Unsere Aktion hätte von jeder beliebigen Kleingruppe gemacht werden können. Es waren dafür keine besonderen Fähigkeiten, Kenntnissen oder Zugänge nötig. Alle notwendigen Informationen sind öffentlich verfügbar.

Für einen radikalen, entschiedenen und direkten Widerstand! Für eine Welt, die nicht für Kapitalinteressen zerstört wird!«

Laut indymedia fand letztere Tat ein Jahr später Nachahmende:

»Am 24.12.2017 haben wir die Kabel, die den Tagebau Hambach mit Strom versorgen angezündet. So wurde zumindest ein Teil der riesigen Maschinen dort stillgelegt. Die Kabel haben sich in diesem Fall an dem Aussichtspunkt auf den Tagebau (der nach Terra Nova) befunden. Stop Coal now! An RWE: Merry Crisis and a happy new fear!«

Auf der Homepage der Besetzung des Hambacher Forstes kommt es zu Debatten:

»Legitim? Ich bin der Ansicht, dass die Mittel möglichst angemessen gewählt werden sollten. Warum in einem Konflikt jemanden schlagen, wenn es ein Gespräch getan hätte? Warum eine*n Angreifer*in umbringen, wenn sie*er mit einem Schlag außer Gefecht zu setzen wäre? Ich kann nicht vorher bestimmen, was für einen Effekt die Sabotageakte für den Widerstand haben werden. Auch die Saboteur*innen konnten das sicherlich nicht. Aber sie haben den Mut gehabt, es auszuprobieren, und dafür bin ich dankbar. Denn um die Tagebaue zu stoppen wurden vor langer Zeit Gespräche versucht. Ohne Erfolg. Der Rechtsweg wurde begangen. Ohne Erfolg. Aufklärung, Demonstrationen, Lichterketten, Menschenketten. Ohne dass sie alleine die Zerstörung aufhalten konnten. Ziviler Ungehorsam, Besetzungen, Blockaden. Vielleicht bewegt sich ein bisschen. Doch der Klimawandel und seine verheerenden Folgen gehen weiter voran. Es ist nicht einmal ein Rückgang der Emissionen zu verbuchen.

Außerdem wird der Preis für Menschen, die Zivilen Ungehorsam leisten, in die Höhe getrieben. Zivilklagen und Schadensersatzforderungen sollen Aktivist*innen zum Stillhalten bewegen, indem sie mit finanziellem Ruin oder Gefängnis drohen. Wer sich dem entzieht, indem sie*er sich anonym hält, der Polizei die Angabe der Personalien und der Fingerabdrücke verweigert, wird auf der Wache misshandelt, oder in der Nähe der Besetzungen willkürlich aufgegriffen und über Stunden eingesperrt. Die logische Konsequenz sind Aktionen, die den Betrieb stören oder lahmlegen und bei denen die Akteure nicht in die Hände der Polizei und der Securities fallen.«

Debatten um Militanz gab es auch auf dem Klimacamp 2016. Hier Ausschnitte aus einer auf den Klos ausgehängten Klimacampzeitung:

»Aktionen die auf eine Militanzästhetik von Feuer und zerstörten Polizeiautos verzichteten könnten laut Aktionsrahmen ›genauso effektiv in ihrer Blockadewirkung sein‹. Es wirkt in dieser Formulierung, als sei ›Effektivität‹ per se das sinnvollste Beurteilungskriterium für Aktionen. Das sehen wir nicht so, sondern würden für eine Abwägung plädieren (Risiko, Effektivität, Vermittelbarkeit, Anschlussfähigkeit etc.). Wenn Effektivität aber schon herangezogen wird, so halten wir obige Behauptung für schlicht falsch angesichts der Betriebsausfälle und Schäden, die in den letzten Monaten beispielsweise durch Brandanschläge verursacht wurden (u.a. ein mehrtägiger mindestens Teil-Stillstand eines Tagebaus). Selbstverständlich folgt daraus nicht, dass offene Blockaden nicht hochgradig sinnvoll wären. Allein an ihrer blockierenden Effizienz gemessen, sind sie jedoch wirkungsärmer, dafür allerdings auf anderen Ebenen wie Anschlussfähigkeit, Sympathie in der Öffentlichkeit etc. deutlich stärker.«

Block VW in Wolfsburg: »Gegen Volk und gegen Wagen«

Widerstandsfähigkeit und Kontinuität

Bundesweite Bekanntheit erhielten die Besetzer*innen im Sommer und Herbst 2018, aber Besetzungen in diesem Wald gibt es bereits seit April 2012. Damals konnten Aktivist*innen dort sehr einfach hin- und wegtrampen, weil die Besetzung in direkter Nähe zur Autobahnabfahrt war. Heute verläuft die Autobahn von Köln nach Aachen weiter südlich, sie wurde wegen des Tagebaus auf einer Strecke von mehreren Kilometern verlegt.

Im November 2012 kam es im besetzten Wald zur ersten großen Räumungsaktion der Polizei. Es dauerte vier Tage einen der Besetzer aus einem unterirdischen Tunnel herauszubekommen. Mit erfreulicher Selbstverständlichkeit folgte kurz darauf der Aufruf zur Wiederbesetzung und so entstanden ab September 2013 neue Hütten, Barrikaden und Baumhäuser. Im Laufe der folgenden Jahre wurden daraus mehrere Dörfer im Wald. An den Wegen durch die verbliebenen Teile des Waldes stehen an manchen Kreuzungen Wegweiser. Nach Oaktown oder Beechtown werde ich gewiesen, die Richtung nach Lorien wird mir angezeigt oder der Weg zurück zur Wiese. Mordor steht auf dem Pfeil, der in die Mondlandschaft von Tagebauvorfeld und Tagebau zeigt.

Würden wir im Hambacher Wald nach Ende Gelände fragen, bekämen wir möglicherweise die Antwort, Ende Gelände tauche nur einmal im Jahr auf, lenke enormes mediales Interesse auf das Thema Kohleabbau, ließe die Aktivist*innen jedoch im Winter alleine. Wir würden vielleicht auch erzählt bekommen, dass Leute, die an Ende Gelände Aktionen teilnehmen, nicht lernen, wie Kleingruppenaktionen funktionieren, weil sie nur die Erfahrung machen, wenigen Anführer*innen hinterher zu laufen, um Infrastruktur zu blockieren.

Das ist definitiv eine Seite der Medaille. Aber manche der Teilnehmenden der Massenproteste fühlen sich nicht wohl dabei, nur Pläne zu konsumieren, die einige wenige Funktionär*innen hinter verschlossenen Türen entwickelt haben. Dank Gruppen wie ›Zucker im Tank‹, die Workshops auf Ende Gelände Camps angeboten haben, konnten Verbindungen geknüpft werden zwischen Ende Gelände und selbstorganisierten Bezugsgruppen. Die ›Anti-Kohle-Kids‹ – die in Anspielung auf die frühere CDU Chefin und heutige Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer den Slogan benutzen »AKK wieder positiv besetzen« – knüpfen ebensolche Verbindungen zwischen Fridays For Future und Ende Gelände. Und nicht zuletzt brachten die geführten Spaziergänge durch den Hambi von Waldführer Michael Zobel tausende von Besucher*innen zu den Baumbesetzer*innen. Während Michael Zobel in einem Satz die Einzigartigkeit des Waldes aufzeigt, erklärt er im nächsten die Funktion der Baumhäuser.

Selbstverständlich finden wir in all diesen Gruppen jedoch ebenso auch Menschen, die an staatliche Lösungen glauben. Eine der Sprecherinnen der Fridays For Future ist bei der Grünen Jugend aktiv; eine frühere Sprecherin von Ende Gelände kandidiert für den Bundestag. Einige dieser Menschen dürften schlicht egoistisch auf der Suche nach Chancen für ihre persönliche Karriere sein; andere sind wahrscheinlich naiv.

Innenansicht des Baumhauses Rødgrød in Flensburg

Worum es wirklich geht

Aber es geht der Waldbesetzungsbewegung um mehr als den Versuch, Einfluss zu nehmen auf die Entscheidungen, die Politiker*innen in den Hallen der Macht treffen. Wir erleben und spüren in jeder Facette unseres Lebens in dieser kapitalistischen Realität den Zwang zur Selbstoptimierung, dies erhöht die Attraktivität von Orten an denen wir eine ganz andere Art zu sein ausprobieren können. Orte an denen es nicht von Bedeutung ist, ob wir einen akademischen Abschluss haben und wo wir geboren sind. Orte an denen wir neue Formen der Entscheidungsfindung entwickeln können. Orte an denen wir teilen statt unablässig zu konkurrieren. An denen wir es wagen als kinky Queers zu leben, wo wir ausprobieren straight-edge zu sein, wo wir wunderbare Menschen treffen und an fordernden Debatten teilnehmen. Orte an denen wir wenigstens anfangen können, von einer besseren Zukunft zu träumen. Orte an denen Menschen eine unbequeme und ehrliche Antwort auf die Frage »Wie geht‘s dir?« aushalten.

Und obwohl die Erfahrungen, Teil der Besetzungbewegung zu sein, meist verknüpft sind mit Erfahrungen intensiver Polizeigewalt, so ist es doch unmöglich die Erinnerungen an die wunderschönen Momente auszuradieren. Diese Erinnerungen sind Samen, die sich verbreiten. Einige werden niemals keimen, aber andere werden bald Früchte tragen und wieder andere vielleicht auch irgendwann noch aufgehen.

1980, als Anti-Atom-Aktivist*innen die Besetzung namens »Freie Republik Wendland« ausriefen, hängten sie ein Transparent auf: »Turm und Dorf könnt ihr zerstören, aber nicht die Kraft, die es schuf«

Ende Gelände.

Innovationen: Taktiken und Strategien

Lasst uns zum Schluss noch einige der strategischen Entscheidungen herausarbeiten, die die Bewegung gestärkt haben.

Die Polizei zur Räumung nötigen: Wenn nur wenige von euch auf einer Besetzung sind und ihr sie nicht mehr lange aufrecht erhalten könntet, kann es eine Überlegung wert sein, eine Räumung zu provozieren, da Aufgeben sich nach einer größeren Niederlage anfühlen würde, als geräumt zu werden. In der Vergangenheit hat das Ausdehnen von Baumbesetzungen auf die Baustellen selbst diesen Zweck erfüllt.

Die Selbstbezeichnung ›gewaltfrei‹ verweigern: Obwohl Ende Gelände sich darauf konzentriert, niedrigschwellige Blockaden von Kohleinfrastruktur anzubieten, wurde dennoch der Begriff ›gewaltfrei‹ bewusst nie benutzt. Stattdessen beschrieben sie ihre Pläne als eine Einladung an jene, die sich wohlfühlen mit einem bestimmten Ansatz. Dieser Kompromiss zwischen den verschiedenen involvierten Gruppen im Netzwerk ermöglichte die Zusammenarbeit sehr unterschiedlicher Akteur*innen.

Die Reduktion auf wenige Forderungen verweigern: Auf der Internetseite der Hambibesetzung sind die meisten Artikel explizit als Meinung einiger Teilnehmender markiert; manchmal kommt es online zu Diskussionen zwischen verschiedenen Schreibenden. Zusätzlich haben viele der Barrios (die verschiedenen Dörfer innerhalb der Besetzung) und manchmal sogar einzelne Baumhäuser eigene social media Kanäle. So etwas wie eine Zentrale der Bewegung gibt es nicht.

Gegenüber Cops und Gerichten die Angabe der Identität verweigern. Zunächst im Rahmen von Ende Gelände Protesten und rund um den Hambi zum Schutz teilnehmender internationaler Aktivist*innen eingesetzt, ist diese Strategie zweischneidig. Wer die Angabe der eigenen Identität verweigert riskiert Untersuchungshaft und geht ein höheres Risiko ein, dass Fingerabdrücke genommen werden. Gleichzeitig hat diese Strategie den Staat erfolgreich von zahlreichen Verfahren gegen Aktivist*innen abgehalten. Es wäre selbstverständlich jederzeit möglich, dass die Polizei hunderte von Aktivist*innen länger einsperrt, aber ohne die Option auf massenhafte Identitätsverweigerung hätten viele sich nicht an den Massenprotesten beteiligt; sie gingen die Risiken bewusst ein.

Nach mehreren Jahren des Experimentierens mit der Verweigerung der Personalienangabe werden einige der Langzeiteffekte sichtbarer: Diejenigen, die von der Polizei erkannt wurden stehen manchmal allein vor Gericht, weil die anderen Menschen aus der früheren Bezugsgruppe Angst haben, kontrolliert und doch noch auch verfolgt zu werden. Menschen leben in Angst, andernorts erkannt zu werden. Kommunikation zwischen Aktivist*innen und Gruppen wird komplizierter, da Menschen ihre Namen oft wechseln. Das macht es schwieriger, langfristige Beziehungen und Kooperationen aufzubauen.

Aus den Wäldern zu den Fabriken: 2018 und 2019 wurde das Thema Verkehr innerhalb der Bewegung diskutiert; einige setzten den Fokus dabei auf Automobilausstellungen als potentielles Aktionsziel während andere die Notwendigkeit beschrieben, dorthin zu gehen, wo es am meisten weh täte: an die Produktionsstätten. Eines der Resultate dieser Debatten war eine große Blockade des VW-Werks in Wolfsburg 2019.

Manchmal ist es ein wichtiger Schritt, eine Besetzung zu verlassen, um strategisch über einen Kampf nachzudenken. Wer in das tägliche Leben einer Besetzung eingebunden ist – permanent beschäftigt damit, Essen und Trinkwasser und neue Baumaterialien zu besorgen und einen Umgang mit Behörden etc zu finden – für den*die kann es schwierig sein, einen Schritt zurückzutreten und über die großen Fragen nachzudenken. Manchmal ist das beste, was du tun kannst, ein paar Tage oder Wochen Auszeit zu nehmen, um die Tendenz zu vermeiden, den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen.

Bedenkt: Die Anzahl an Strukturen und Barrikaden entspricht nicht zwingend der medialen Aufmerksamkeit (wenn das euer Ziel ist) oder der ›Qualität‹ eines Kampfes. Die Räumung im Hambi 2018 rief mehr Medieninteresse hervor als die Räumung im Danni 2020. Manchmal ist das Bauen weiterer Baumhäuser nur eine Form von Selbstbetrug: Was scheint, als könne es die Besetzung größer machen, könnte darin enden zu einem ineffektiven Ritual zu werden, wenn es uns nicht gelingt, die Dinger weiter voran zu treiben.

Die Besetzung in Flensburg.

Im Vorfeld die Wiederbesetzung ankündigen: Vor der Räumung der Besetzung im Hambi im Herbst 2014 hatten Aktivist*innen bereits angekündigt, den Wald erneut zu besetzen; einen Monat nach der Räumung, wurde dies in die Tat umgesetzt. Selbst wenn ihr persönlich euch wegen Erschöpfung nicht sicher seid, ob ihr euch an einer Wiederbesetzung beteiligen könntet, so ist die Ankündigung einer Wiederbesetzung als einzig mögliche Antwort aus eine Räumung ein sehr starkes Statement. Es lädt Menschen ein mitzumachen, die bisher nicht involviert waren und gibt der Bewegung eine Chance, sich zu erneuern.

Internetzugang: Wenn pandemiebedingt Menschen nicht zur Schule oder zur Uni gehen können oder ihr Job ins Homeoffice verlegt wurde, dann kann letzteres auch ein Baumhaus sein. Im Dannenröder Wald waren viele Schüler*innen und Studierende dankbar für zuverlässige schnelle Internetverbindungen in direkter Nähe zur Besetzung bzw zum Teil sogar in den Baumhäusern.

Skillshare: Im Hambi finden jährliche Veranstaltungen zum skillsharing statt, um Wissen zwischen denen die es bereits haben und den zukünftig waldverteidigenden Bewohner*innen auszutauschen. Der Austausch von Wissen in Zeiten in denen eine Bewegung noch klein ist ermöglicht es, die Herausforderungen zu stemmen, die auftauchen, wenn eine Bewegung schnell anwächst und alle mit anderen Dingen beschäftigt sind.

Gemeinsame Referenzpunkte: Im gleichen besetzten Wald gewesen zu sein ist ein Bezugspunkt, der Menschen verbindet. Obwohl die erste Besetzung im Hambi 2012 nicht besonders viel gemeinsam hat mit der Besetzung dort 2014, 2018 oder heute, so fühlen wir uns doch sofort verbunden mit Menschen, wenn wir die Erfahrung teilen, im Hambi gewesen zu sein. Es ist vergleichbar mit Besuchen in der ZAD oder in Christiania in Kopenhagen; der Hambi ist zu einer Art Legende geworden. Das war nur möglich, weil der Wald mal so groß war, dass sobald die besetzten Teile geräumt wurden, andere Teile des gleichen Waldes neu besetzt werden konnten.

Infrastruktur: Offene (und grundsätzlich ›legale‹) Projekthäuser in der Nähe von Besetzungen eröffnen Menschen die Möglichkeit eines warmen, trockenen Schlafplatzes wenn sie das brauchen, sie bieten eine Postadresse, um Briefe zu erhalten, einen Ort, um Trinkwasser aufzufüllen und zu duschen. Diese Orte können als Büros mit Internet und vielleicht einem Drucker oder Kopierer fungieren. Selbstorganisierte offene Projekte können Platz bieten zum Malen von Transparenten, zum Bauen von Ankettvorrichtungen, oder schlicht zum Entspannen ohne die ständige Angst, verprügelt und geräumt zu werden. Und das ohne abhängig zu sein von bürgerlicheren Unterstützungsstrukturen, die möglicherweise nicht alle unterschiedlichen Arten von Aktionen die Vorbereitung brauchen unterstützen wollen würden.

Als die erste Besetzung im Hambi startete, kauften Aktivist*innen in der Nähe ein Haus. Sie eröffneten dort die WAA (Werkstatt für Aktionen und Alternativen) – explizit, um die Kämpfe gegen den Kohleabbau zu unterstützen.

Eine Barrikade im Hambi.


Erfolg

Ein einfacher Grund, Bäume zu besetzen statt politischen Parteien oder altmodischen NGOs beizutreten ist die Möglichkeit zu gewinnen. Erfolg ist immer relativ: Wir können einen Baum retten, während hunderte gefällt werden. Aber dennoch – in diesen Zeiten, ist die Rettung eines Baumes, ein Grund stolz zu sein. Es ist schlicht das Richtige in einer Gesellschaft, die so zerstörerisch ist wie unsere. Es ist eine kleine Demonstration von Respekt gegenüber der Natur – und dadurch von Respekt und selbst gegenüber.

  1. Eine Gegend in Deutschland, die bekannt ist für ihren jahrzehntelangen Kampf gegen die Atomindustrie. Eines der bekanntesten Hüttendörfer, bekannt als »Freie Republik Wendland« wurde dort 1980 errichtet – und dann geräumt. Zwischen 1995 und 2011 markierten die Castor-Transporte (Transporte hochradioaktiver Abfälle) ins wendländische Gorleben den Höhepunkt der damaligen Anti-Atom-Bewegung. Dort kamen von lokalen Bäuer*innen über militante Autonome bis zu bürgerlichen Protestierenden alle zusammen. Eines der Hauptziele (die Verhinderung der unbefristeten Einlagerung hochradioaktiver Abfälle in den Salzstock Gorleben) wurde schließlich im September 2020 erreicht.